DAS TRINUBIUM UND DIE HEILIGE SIPPE

 

 

Eine der Legenden, die um 1500 die Gemüter im Westen Europas in hohem Maße erregt hat, ist die Geschichte von den drei Ehen der heiligen Anna, das sogenannte Trinubium. Dieses Trinubium bildet die Grundlage für ein netzartiges Gefüge der verwandtschaftlichen

Beziehungen, die die wichtigsten Personen aus der Umgebung Christi in einem genealogischen Gebilde zusammenfasst. Ohne die Legende der drei Ehen der Mutter Anna wäre die heilige Sippe, die die Verwandten Christi gleichsam zu einem Familienporträt vereint, undenkbar gewesen. Diese berichtet davon, dass Anna nach dem Tode ihres Gatten Joachim noch zweimal heiratet. Zuerst heiratet sie Kleophas, wie einige meinen, Josephs Bruder, und dann Salomas.

Aus jeder Ehe wurde eine Tochter mit dem Namen Maria geboren. Da wäre zunächst

 

• Maria, die Mutter Jesu; sodann

 

• Maria Kleophas, die Mutter der Apostel Jakobus des Jüngeren, Joseph des Gerechten sowie des Judas Thaddäus und des Simeon Zelotes und schließlich

 

• Maria Salome, die Mutter Johannes des Evangelisten und Jakobus des Älteren.

 

Ebenfalls die Gatten der drei Marien wurden dem Schema der Verwandten hinzugefügt. Mit

Ausnahme Josephs werden nacheinander Alphäus, der Gatte Mariä Kleophas sowie Zebedäus, Mariä Salomes Gatte, in die heilige Sippe eingereiht.

 

Sankt Anna, der Mutter Mariä und der Großmutter Christi, wird im Übergang vom Mittelalter

zur Neuzeit eine übermäßige Verehrung zuteil. Männer und Frauen an den Höfen wie auch in den Städten, auf dem Lande und in Klöstern werden ebenfalls von der Annen-Euphorie, die etwa im Jahre 1500 ihren Höhepunkt erreicht, mitgerissen.

 

Im devotionalen Schrifttum spüren wir letzten Endes gegen Ende des 15. Jahrhunderts eine

ausufernde Produktion von Texten, in denen Lebensgeschichte und Wundertaten der heiligen Anna und ihrer Verwandtschaft beschrieben werden. Außerdem entsteht im Zusammenhang mit ihrer Verehrung eine Fülle von Liedern, Gebeten, Sprüchen und Traktaten.

 

Die Beliebtheit der Anna Selbdritt basiert nicht nur auf einem theologischen Konzept, in dem

die Abstammung Christi über die weibliche Linie in Erscheinung tritt oder auch die Lehre der

unbefleckten Empfängnis, sondern auch auf der Tatsache, dass die Verehrung der heiligen Anna seit altersher die Züge eines Mutterkultes trägt. Die Darstellungen machen das erkennbare und universelle Band zwischen Mutter und Kind, hier zu einer ‘maternalen Triade’ erweitert, sichtbar. Die heilige Mutter Anna appelliert an Gefühle der Wärme, der Sicherheit und der Geborgenheit. Die Annaverehrung konnte sich gerade deswegen einer immer zunehmenden Beliebtheit erfreuen, da jeder auf eigene Weise etwas Besonderes in ihr erkannte und er sich mit der Verehrung verbunden fühlte. Letztendlich jedoch bildete nicht die Ratio die Grundlage für den Erfolg, sondern das Herz der Menschen und führte die Erkenntnis, dass diese mächtige Großmutter mit ihren Verwandten ein glückliches irdisches Dasein und ein ungetrübtes ewiges Leben gewährleistete, zur innigen und begeisterten Verehrung.

 

Proto-Evangelium

 

Das älteste apokryphe Evangelium ist das Proto-Evangelium des Jakobus, das um etwa 1500 entstanden sein soll. In diesem Proto-Evangelium, in dem Marias Leben beschrieben wird, treten die Namen von Marias Eltern zum erstenmal auf: Anna und Joachim. Ebenfalls wird darin erzählt, dass die Ehe von Joachim und Anna mehr als zwanzig Jahre - trotz ihres frommen Lebens, kinderlos geblieben war. Doch sobald sie in ihrer Umgebung mangels einer Nachkommenschaft - eine große Schande für die Juden - erniedrigt werden , erwirkt Gott in ihrem Schicksal eine Wandlung. Anna wird trotzt ihres hohen Alters zur Mutter. Sie wird Maria, die Mutter Christi, zur Welt bringen. Aus dieser Geschichte geht hervor, dass Maria die Frucht des Gebets ist.

 

Evangelium des Pseudo-Matthäus (5. Jh.)

 

Nach dem Evangelium des Pseudo-Matthäus ist Joachim aus dem Stamme Juda geboren und wohnt in Jerusalem (nach dem “Evangelium der Geburt Mariä” in Nazareth). Er ist ein

frommer Mann, der bereits seit seinem 15. Lebensjahr seine Besitztümer in drei Teile teilt.

Einen Teil gibt er den Waisen, Witwen, Fremden und Armen; den zweiten Teil überlässt er

denen, die den Kultdienst verrichten, und der dritte Teil ist zum eigenen Gebrauch bestimmt.

Wenn er zwanzig Jahre alt ist, heiratet er Anna, die Tochter Achars (oder Nathans), aus dem Stamme Juda und dem Geschlechte Davids. Zwanzig Jahre bleiben sie ohne Kinder.

Während des Festes der Wiedereinweihung des Tempels in Jerusalem (Chanukka, Anfang

Dezember) will Joachim ein Opfer darbringen, doch der diensthabende Priester Ruben

verweigert ihm dies auf schroffe Weise, weil er keine Kinder hat. Voller Scham zieht sich

Joachim daraufhin zu seinen Hirten in die Berge zurück und begibt sich mit ihnen in einen weit entfernt gelegenen Landstrich. Mehr als fünf Monate hört Anna nichts von ihm. Sie beklagt sich darüber, dass sie weder Kinder noch einen Mann hat. Zutiefst betrübt darüber geht sie in den Obstgarten, wo sie in einem Lorbeerbaum ein Sperlingsnest entdeckt. Daraufhin fängt sie zu klagen an. Dann legt Anna ein Gelübde ab: Sie werde das Kind, falls sie doch noch eines gebären sollte, dem Dienste Gottes weihen. Gleich danach erscheint ein Engel, der ihr die Geburt Christi ankündigt. Von dieser Vision überwältigt zieht sie sich einen Tag und eine Nacht in ihr Schlafgemach zurück. Dann ruft sie ihre Magd Judith, die sich die ganze Zeit schon nicht mehr um ihre Herrin gekümmert hat. In einem Wortstreit wirft Judith ihrer Herrin vor, dass sie unfruchtbar sei. Inzwischen hat sich ein Engel in Gestalt eines Jünglings zu Joachim begeben. Er erkundigt sich danach, weshalb er nicht zu seiner Gattin zurückkehre, worauf ihm Joachim erzählt, was ihm geschehen sei. Daraufhin gibt sich der Jüngling ihm zu erkennen, und verspricht ihm, dass Joachim und Anna eine Tochter bekommen werden, die im Tempel erzogen wird. Joachim bereitet ein Opfer vor und in dessen Rauchschwaden erhebt sich der Engel in den Himmel. Die Hirten, die sich nach ihm auf die Suche gemacht haben, finden Joachim im Gebet versunken. Dennoch zögert er, zurückzugehen. In einem Traum drängt der Engel ihn, abzureisen. Innerhalb von dreißig Tagen erreicht Joachim die Stadt Jerusalem. In der Zwischenzeit hat der Engel Anna gebeten, sich dort zu der Goldenen Pforte zu begeben.

Weil sie dort lange warten muss, fällt sie in Ohnmacht. Wenn sie wieder zu sich kommt, sieht sie, wie sich Joachim mit seinen Herden nähert. Zusammen kehren sie heimwärts und bringen Gott ein Opfer dar als Dank dafür, dass sich sein Versprechen erfüllt hat. Nach neun Monaten wird Maria geboren. Sie wird im Alter von drei Jahren in den Tempel gebracht, wo sie auf den Stufen des Altars der Brandopfer tanzt. Anna singt dazu ein Loblied: “Die Unfruchtbare ist Mutter geworden und sie hat Israël Freude und Frohsinn geboren.”

 


Übersetzung Dr Karl Tax